Frauen aus Afghanistan: "Alle Journalistinnen, die ich kontaktieren konnte, weinten" (2024)

Aus der Serie: 10 nach 8
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Frauen aus Afghanistan: "Alle Journalistinnen, die ich kontaktieren konnte, weinten" (1)

Die 10-nach-8-Redaktion veröffentlicht an dieser Stelle in unregelmäßigen Abständen Beiträge von Frauen, die seit dem Rückzug der USA und ihrer Verbündeten aus Afghanistan dort in großer Gefahr leben oder in Drittländer geflohen sind. Wir wollen zeigen, wie sich die Machtergreifung der Taliban auf einzelne Menschen auswirkt. Die 10-nach-8-Redaktion kennt die Autorinnen aus persönlichen Kontakten und Arbeitsbeziehungen ihrer Netzwerke. Die Beiträge entstehen unter teils äußerst schwierigen Bedingungen, manche können zum Schutz der Autorinnen nur unter Wahrung ihrer Anonymität publiziert werden. Daher erscheinen einige dieser Texte auch – anders als üblich bei 10 nach 8 – weder mit einem Foto noch einer Kurzvita der jeweiligen Verfasserin. In ihrer Summe bilden die Beiträge nur einen kleinen Ausschnitt aus den Einzelschicksalen, von denen derzeit diejenigen in Deutschland, die mit Afghan:innen zusammenarbeiten, Kenntnis erhalten. Nach dem ersten Beitrag einer aus Sicherheitsgründen anonym bleibenden Frau in Kabul schreibt hier nun die Autorin und Journalistin Freshta Ghani, die aus Afghanistan geflohen ist und derzeit in Tadschikistian lebt, unter ihrem Klarnamen.

Solange ich mich erinnernkann, musste ich gegen schlechte Tage ankämpfen. Ich ging noch zur Schule, alsich zu schreiben begann. Alles, was ich schrieb, schrieb ich heimlich, denn damalsdurfte ich weder Gedichte schreiben noch Kurzgeschichten.

Es war im Jahr 2011 und ich ging in die neunteKlasse, als zum ersten Mal eine Geschichte von mir in einem Buch veröffentlichtwurde. Die Geschichte trug den Titel Blut. Die Veröffentlichunghatte ich einem Zufall zu verdanken. In Kabul gab es eine Literaturgesellschaftvon Frauen. Einer dieser Frauen war ich begegnet. Als sie hörte, dass ichschreibe, bat sie mich um eine meiner Geschichten, damit sie in einem Buchveröffentlicht wird. Ich gab ihr meine Geschichte, die ich per Hand geschriebenhatte. Damals besaß ich keinen Computer, um den Text abzutippen. Der Frau gefielmeine Geschichte und sie hat sie veröffentlicht. Vor meiner Familie hielt ich dieVeröffentlichung geheim. Ich hatte sogar meinen Nachnamen geändert. Das war daserste Mal, dass ich den Namen Ghani führte. Bis heute kennt man mich unterdiesem Namen. Selbst meine Mutter mochte damals nicht, dass ich schreibe. Siesagte: "Es reicht, dich zur Schule zu schicken. Es bringt nichts, wenn dudich dieser unangebrachten Schreiberei hingibst." Dabei war es eigentlichunsere Mutter, die dafür gesorgt hatte, dass wir überhaupt zur Schule gehenkonnten. Unser Vater und seine Brüder wollten nicht, dass Mädchen Bildungerhalten. Sie hielten Poesie für das Wort des Teufels, und Mädchen sollten erstrecht keine Gedichte schreiben. Obwohl ich alle meine Aufgaben und Pflichtenerfüllte, haben sie es mir sehr schwer gemacht. Später gewöhnten sie sich andas Schreiben und hörten auf, mich daran zu hindern, nur vor unserenVerwandten, die in der Provinz Kunar lebten, verheimlichte ich es weiter.

Die Provinz Kunar liegtnah an der Grenze Afghanistans zu Pakistan. Dort sitzen die meisten Mädchenauch heute noch zu Hause. Wenn Kinder verheiratet werden, ist das für dieMädchen besonders schlecht. Sie werden dann von der Bildung ausgeschlossen. Siewerden oft gefoltert und sind allen möglichen Schikanen ausgesetzt. DieHerrschaft der Männer und Väter ist so stark, dass einige Frauen selbstglauben, sie müssten ihren Männern zur Verfügung stehen, und ihre große Pflichtsei es, sich den Männern zu unterwerfen, Kinder zu gebären und die Hausarbeitenzu erledigen. Mädchen gelten als hässlich, nur über die Geburt eines Sohnesfreut man sich.

Mir war klar: Jemandmusste etwas unternehmen, damit sich dies ändert. Medien waren ein gutesMittel. Sie sollten den Menschen zeigen, dass sowohl Jungen als auch MädchenMenschen sind und dass sie dieselben Rechte haben. So kam es, dass ich mich fürJournalismus interessierte. Nach meinem Schulabschluss im Jahr 2014 bewarb ich mich alsSprecherin bei zwei lokalen Radiosendern. Bei einem Sender wurde ich angenommenund einige Monate lang geschult. Dieser Radiosender hieß Kilid (Schlüssel). Ich begann mit Unterhaltungsprogrammen, spätergab mir einer der Produzenten den Auftrag, jede Woche eine investigativeReportage über das Leben von Frauen zu machen. Diese Reportagen waren soerfolgreich, dass mir ein Jahr später von einer zivilgesellschaftlichenVereinigung in Afghanistan der FreedomAward verliehen wurde.

2017 begann ich, beieinem anderen Radiosender zu arbeiten. Er gehörte zur Moby Media Group, demgrößten afghanischen Medienunternehmen. Auch bei diesem Sender produzierte icheine Sendung über das Leben von Frauen. Außerdem arbeitete ich als Nachrichtensprecherin.In dieser Zeit habe ich auch geheiratet. Mein Mann ist ebenfalls Journalist. Erunterstützte mich in meiner Arbeit und oft haben wir zusammengearbeitet.Gemeinsam mit anderen jungen Journalistinnen engagierte ich mich anonym im zivilgesellschaftlichenBereich, um der Gewalt gegen Frauen ein Ende zu bereiten. Dann erhielt ichzweimal Morddrohungen ohne Absender. Man hatte mich also identifiziert und ich musstemeine Arbeit beim Radiosender Arakoziyaaufgeben. Ungefähr zwei Monate lang hielt ich mich von allen Aktivitäten fern.Erst als die Drohungen zwei Monate später abklangen, begann ich wieder zuarbeiten. Diesmal nahm ich eine Arbeit bei der internationalen Radiostation Radio Liberty auf.

Die Arbeit dort hat miraußerordentlich gut gefallen, denn mir wurden zwei Sendungen anvertraut. EineSendung trug den Titel Leading women. Die andere Sendung hieß Die Hälfte der Welt. Dort sendetenwir ähnlich wie bei meinen früheren Sendungen wöchentliche Reportagen über dasLeben von Frauen in all seinen Aspekten. Wir sprachen mit Frauen, die Gewalt erfahren mussten, mitRegierungsvertretern, mit Frauenaktivistinnen und auch mit Psychologen. In unserenSendungen wollten wir ein Problem nicht nur beschreiben, sondern lösen, undFrauen auf diese Weise einen Ausweg aus ihrer Lage aufzeigen. Bei Leading women lud ich dagegen Frauen ins Studio ein, die in großeSchwierigkeiten geraten waren, diese letzten Endes aber überwinden konnten. Parallelzu meiner Arbeit studierte ich Rechts- und Politikwissenschaften, konnte nachmeinem Bachelor aber nicht weiterstudieren.

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Author: Barbera Armstrong

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